Nach der Übernahme des Zugbauers Bombardier durch Alstom aus Frankreich zittern deutsche Standorte um ihre Zukunft. Die Arbeitnehmer fürchten massiven Personalabbau – und hoffen auf einen unkonventionellen Neustart.
31.05.2022, WirtschaftsWoche
von Henryk Hielscher und Christian Schlesiger
Eigentlich hätte die Welt in Görlitz wieder in Ordnung sein können. Zumindest war die Hoffnung groß, dass der ostdeutsche Standort des Zugbauers Alstom vom Großauftrag in Baden-Württemberg profitieren könnte. Die Landesregierung in Stuttgart hat Anfang Mai bei Alstom 130 Doppelstockzüge für den Regionalverkehr bestellt. Ein Auftrag mit einem Volumen von 2,5 Milliarden Euro inklusive Wartung der Züge bis 2030. Und der größte Einzelauftrag für die Bestellung von Regionalzügen eines Bundeslandes. Doch Görlitz geht leer aus – wie auch alle anderen deutschen Alstom-Werke.
Alstom will die Züge in Kattowitz bauen lassen. René Straube, Betriebsratschef der deutschen Alstom-Gruppe, ärgert das maßlos. „Wir haben in Görlitz die Kompetenz für den Bau der Doppelstockzüge, wir haben die Kapazitäten und brauchen neue Aufträge“, sagt Straube. „Aber der Auftrag, der mit deutschem Steuergeld bezahlt wird, geht komplett nach Polen.“ Dort werde investiert, in Deutschland nicht. „Das ist ein Skandal.“
Das Alstom-Werk in Görlitz geht ungewissen Zeiten entgegen. Bis vor Kurzem gehörte der Standort noch zu Bombardier. Vor einem Jahr dann kaufte Alstom die deutsch-kanadische Gruppe – und setzt bei den neu erworbenen Einheiten gezielt den Rotstift an. Mindestens 400 Stellen werden in Görlitz gestrichen. Beteiligte befürchten einen personellen Aderlass, der auch die Region in eine Strukturkrise reißen könnte. Eine externe Neugründungsinitiative will das verhindern.
Der französische Neueigentümer Alstom blickt jedenfalls nach wirtschaftlichen Kriterien und ohne Sentimentalitäten auf die Zukunftsfähigkeit der deutschen Werke. In Salzgitter betreiben die Franzosen seit jeher ihr eigenes Werk. Mit dem Kauf von Bombardier hat Alstom die ehemaligen Bombardier-Fabriken in Görlitz, Hennigsdorf bei Berlin, Breslau, Bautzen, Siegen, Mannheim und Kassel übernommen. Jeder Standort hat seine eigene Spezialisierung. Die großen Werke sind in Hennigsdorf, Bautzen und Görlitz, wo der Rohbau für Züge gefertigt wird – und fast alles gemacht werden kann. Dazu gehört neben dem Wagenkasten auch der komplette
Innenausbau bis hin zum Testing und der Auslieferung der Fahrzeuge. Der Rohbau, „das ist der teure Teil der Wertschöpfung“, sagt Straube, „mit viel Personal und einem hohem Flächen- und Energieverbrauch“. Straube: „Aber der Rohbau ist die eigentliche Kompetenz im Zugbau.“
Noch arbeiten die Görlitzer alte Großaufträge ab, zum Beispiel den Rohbau für den ICE4, der von Hauptauftragnehmer Siemens an die Deutsche Bahn ausgeliefert wird. Auch 42 Doppelstockfahrzeuge für den Intercity-Verkehr der Deutschen Bahn stehen noch in den
Büchern. Auch Straßenbahnaufträge für Dresden, Göteborg und hoffentlich Magdeburg werden abgearbeitet. Doch die Auftragspipeline ist endlich. „Spätestens für die Zeit nach 2023 brauchen wir in Görlitz neue Aufträge“, sagt Straube. Auch der Görlitzer Oberbürgermeister Octavian Ursu (CDU) ist enttäuscht über die Ende 2021 verkündeten Abbaupläne. Er habe mehr erwartet von Alstom. Die Arbeitsplätze im Werk sollten erhalten bleiben, fordert Ursu.
Alstom setzt strategisch wie viele Unternehmen im Zugbau auf das „best-cost-Concept“ – und da stehen ausländische Werke wie Kattowitz in Polen offenbar besser da. Offiziell stehen laut Alstom 900 bis 1300 Stellen in der Produktion zur Disposition – über alle Standorte hinweg. 700 neue Stellen bei Entwicklung, Software und Design sollen neu geschaffen werden. Das Management von Alstom fordert bei den Werken „mehr Spezialisierung“, heißt es offiziell. Die Zeiten, in denen man davon ausgehen konnte, dass jeder Standort immer alles machen könne, seien vorbei, so ein Sprecher. Standortschließungen seien aber nicht geplant.
Doch was bleibt dann für Görlitz – dem größten Ex-Bombardier und neuen Alstom-Standort? Im Grunde gebe es zwei Möglichkeiten, sagt Christoph Scholze: „Man kann jetzt zusehen, wie hier nach und nach immer mehr Industriearbeitsplätze abgebaut werden und der Standort am Ende ganz verschwindet“. Oder man könne versuchen, „sich von Alstom zu lösen und auf neue Ideen zu setzen, die für viele andere Investoren attraktiv sind.“ Welche Variante er für sinnvoll hält, wird schnell klar.
Neues Geschäftsmodell gesucht
Schließlich hat Christoph Scholze vor einigen Jahren schon den Arbeitskampf im Görlitzer Turbinenwerk von Siemens miterlebt und ihn als Betriebsrat und Mitglied des Organisationsteams mitgeprägt. Heute ist er Innovationsmanager und leitet in Görlitz eine Niederlassung des Beratungsnetzwerkes GRANTIRO. Im Nebengebäude eines früheren Jugendstil-Kaufhauses in der Görlitzer Innenstadt hat er Quartier bezogen. Spanplatten dienen hier als Bodenbelag, ein paar Schreibtische stehen im Raum. Rechts an der Wand, über einer Sofa-Sitzecke, hat Scholze Fotos aus seiner Siemenszeit aufgehängt.
Die Bilder zeigen ihn mit der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel, mit dem Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, mit Arbeitsminister Hubertus Heil. Kein Zweifel, der Arbeitskampf bei Siemens war ein Politikum. Im Vergleich dazu läuft die geplante Werksschmelze bei Alstom ruhig ab. Zu ruhig, findet Scholze: „Momentan warten alle gegenseitig aufeinander und es geht leider nicht in dem Tempo voran, das ich mir wünschen würde.“
Eigentlich wurden die GRANTIRO-Experten für eine andere Aufgabe engagiert. „Wir sind vor gut einem Jahr mit einem regionalen Modellprojekt gestartet“, sagt GRANTIRO-Geschäftsführer Peter E. Rasenberger. Im Auftrag des Landkreises und gefördert vom Bundeswirtschaftsministerium gehe es darum, neue Ansätze zu finden, damit die komplette Region den Strukturwandel meistern kann. „Öffentliche Ressourcen und Fördergelder sollen nicht mehr nur in Wanderwege, neue Umgehungsstraßen und Flamingo-Schulen gesteckt werden“, sagt Rasenberger. Vielmehr müsse es darum gehen, neue Geschäftsmodelle zu etablieren: „mit langfristig gut bezahlten und zukunftsfesten Jobs.“ Als dann kurz vor Weihnachten 2021 der geplante Stellenabbau im Görlitzer Alstom-Werk publik wurde, entschieden sich die Berater, auch hier nach Lösungen zu suchen – in einem „gesteuerten Innovationsprozess“, wie es Rasenberger formuliert. Die Initiative „Standorterhalten“ war geboren.
Im ersten Schritt will Rasenberger nun „die innovativsten Köpfe aus der Bevölkerung, aus dem Werk und von außen“ zusammenbringen und dazu animieren, über neue Möglichkeiten nachzudenken. „Über diesen Weg generieren wir 300 bis 400 brauchbare Geschäftsideen, die nach und nach auf ihre Substanz abgeklopft werden.“
Was abstrakt klingt, hat sich in der Praxis bewährt, „vor allem in unternehmerischen Extremsituationen wie Insolvenzen“, sagt Rasenberger. Etwa bei Schaidt Innovations, einem früheren Hersteller von Unterhaltungssystemen für Premiumautos. Jahrelang lief das Geschäft – bis Tesla kam und berührungsempfindliche Displays in die Fahrzeuge integrierte. Die Branche zog nach, gefertigte Autoradios wurden plötzlich überflüssig: Schaidt musste Insolvenz anmelden. Statt das Unternehmen abzuwickeln, entschieden sich die Beteiligten, ein völlig neues Geschäftsmodell zu entwickeln und das Unternehmen mit dieser neuen Geschäftsgrundlage zu verkaufen. Zur Umsetzung wurde ein Team um Peter Rasenberger verpflichtet. Der Plan ging auf: Eine der verfolgten Geschäftsideen, die Fertigung von Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge, passte zur Ausrichtung der Webasto-Gruppe. Der Autozulieferer schlug zu, übernahm die Firma und rettete die Arbeitsplätze.
Ähnlich soll es nun in Görlitz laufen. Dutzende Ideen für die Zukunft des Werks seien bereits in ersten Workshops entstanden, sagt Rasenberger. Sie lassen sich grob in drei Gruppen unterteilen: „Ideen im bestehenden Geschäftsmodell, aber mit neuen Kundengruppen und Produkten, Ideen mit ganz neuen Geschäftsmodellen, aber immer noch mit Bezug zur Schiene“ sowie „ganz neue Geschäftsmodelle“. Was das konkret heißt?
„Das Spektrum ist gewaltig“, sagt Scholze. Es reicht von Hotelzügen, über Züge für Krisengebiete, mit denen die Strom- und Wasserversorgung oder auch die medizinische Versorgung organisiert werden kann. Im Görlitzer Werk könnten auch Themenwagen produziert werden, etwa rollende Fitness- oder Luxuswaggons. Denkbar wäre es zudem, vor Ort Busse oder Müllfahrzeuge auf Elektroantrieb umzurüsten, neue Schienenfahrzeuge zu erproben, oder hier „Waggons mit Solarzellen an der Außenwand auszustatten.“
Umbau statt Abfindung
Welches der Konzepte die besten Chancen hat, ist noch nicht klar, zumal die GRANTIRO-Experten nach weiteren möglichen Geschäftsideen fahnden. Aber „zum Schluss muss der Standort zu einem innovativen Ökosystem für Mobilitätslösungen entwickelt werden“, so Scholze.
Dabei werden die Berater auch von Studenten der Fachhochschule in Kufstein Tirol in Österreich unterstützt. „Insgesamt 25 Studierende sind in ihrem Praxisblock an dem Projekt beteiligt“, sagt ihr Professor Markus Exler. „Sie sind alle berufstätig, viele sind über 30 Jahre alt und haben durchaus schon Restrukturierungs- und Beratungserfahrung“, sagt Exler. Einmal in der Woche schalten sie sich mit den Experten von „Standorterhalten“ in Görlitz zusammen. Sie sollen neue Sichtweisen einbringen und zugleich lernen, dass eine Restrukturierung heute mehr leisten müsse, als nur die Kosten zu reduzieren, sagt Exler. „Wenn ein Geschäftsmodell wegbricht, weil sich neue Technologien durchsetzen, reicht es nicht aus, nur dagegen anzusparen, sondern sie brauchen ein neues Geschäftsmodell“.
Doch muss es in Görlitz wirklich einen derart radikalen Bruch geben? Immerhin will Alstom das Werk nicht komplett schließen, sondern einen Teil der bestehenden Jobs streichen, in anderen Bereichen aber auch neue Arbeitsplätze schaffen. Im Grunde steht jeder Beschäftigte vor der Frage, was für ihn die beste Lösung wäre: Ein Neuanfang? Eine ordentliche Abfindung von Alstom? Oder hoffen, dass es weitergeht. Irgendwie.
Betriebsratschef Straube kennt die Bemühungen um die Initiative „Standorterhalten“. Er beobachtet das Ganze zurückhaltend. „Ich warte auf verwertbare Ergebnisse“, sagt Straube. „Die buhlen um unsere Leute, da hängen wir uns nicht rein.“ Schließlich will er die Hoffnung nicht aufgeben, dass nicht doch noch alle Jobs in Görlitz innerhalb des Alstom-Kosmos erhalten bleiben könnten.
„Statt Millionenbeträge in Abfindungsprogramme zu stecken, sollte Alstom das Geld besser in die finanzielle Begleitung eines Umbaus des Görlitzer Standorts stecken“, sagt dagegen Scholze. Das Ziel: „die Trennung von den Franzosen und die eigenständige Entwicklung des Görlitzer Waggonbaus.“ Mindestens aber eine Perspektive für die rund 400 Mitarbeiter, die entlassen werden sollen.
Ganz auf Alstom wollen und können aber auch die GRANTIRO-Berater nicht verzichten. „Ein Standortumbau funktioniert nicht als Wunschkonzert, sondern nur als finanziell durchkalkuliertes Projekt“, sagt Rasenberger. In Görlitz seien dafür drei Module erforderlich. Modul eins ist die Grundauslastung durch Alstom: Dazu müsste sich der Konzern über mehrere Jahre verpflichten, Aufträge an das Görlitzer Werk zu vergeben. Für dieses Modul stünden langfristige Industrie-Investoren für die finanzielle Absicherung bereit, sagt Rasenberger. Modul zwei umfasst die neuen Ideen und braucht Investoren, die beispielsweise auch in Start-ups investieren würden.
Modul drei ist die Überbrückung vom alten Zustand zum neuen. Für einen überschaubaren Zeitraum werden weniger Arbeitskräfte benötigt. „Die sollten aber in jedem Fall an Bord gehalten werden“, sagt Rasenberger. Er spreche bereits mit der Politik, welche Fördermöglichkeiten infrage kommen.
Da spricht er mit Betriebsrat Straube die gleiche Sprache. „Unsere Branche ist ja nicht in der Krise. Die Schiene boomt. Es werden in Zukunft eher noch mehr Züge bestellt.
Quelle: Arbeitsplatzabbau bei Alstom: „Das ist ein Skandal“ (wiwo.de)