Was tun, wenn Sanierung keine Option mehr ist?

Wie wäre es, wenn aus der laufenden Insolvenz des Unternehmens heraus ein völlig neues Geschäftsmodell entwickelt und das Unternehmen mit dieser neuen Geschäftsgrundlage verkauft werden würde?

Oktober 2018, Handelsblatt
von Peter E. Rasenberger & Georg von der Ropp

Hier müsste man gleich zusperren“, entfuhr es Dr. Bähr, dem Sachwalter, als er das erste Mal das Ausmaß der Herausforderung bei Schaidt Innovations sah. Ein modernes Unternehmen im beschaulichen Ort Schaidt in Rheinland-Pfalz, welches mit 500 gut ausgebildeten Mitarbeitern Platinen mit elektronischen Bauteilen bestückte. Die Spitze der deutschen Automobilzunft ließ hier produzieren. Zuletzt die Firma Porsche, die hier das beste Unterhaltungssystem für Nobelkarossen bauen ließ.

Was war passiert? Die Firma Becker, ein Pionier in der Entwicklung der ersten „modernen“ Autoradios nach dem zweiten Weltkrieg, produzierte bis in die Mitte der 90er Jahre in Süddeutschland Autoradios, die zu den besten der Welt gehörten. Die amerikanische
Harman International übernahm dann die Standorte, um Multimediakonsolen und Navigationsgeräte zu produzieren. Höchste Qualität und Präzision ermöglichten, dass sich die Produktion dieser Geräte in Deutschland – trotz zunehmender Wettbewerbsfähigkeit von Niedriglohnländern – noch halten konnte. Im Jahr 2013 zog sich dann Harman aus diesem Markt zurück und verkaufte den Standort im
pfälzischen Schaidt. Ab da wurde die Fertigung hochwertiger Infotainment-Produkte unter dem neuen Namen Schaidt Innovations fortgesetzt.

Dann kam Tesla. Zum Erstaunen, nicht nur der Kunden, sondern wohl auch der hiesigen automobilen Führungseliten, verzichteten die Jünger von Elon Musk auf alles, was ein Luxusfahrzeug bisher ausgemacht hatte. Keine klassischen Instrumente, keine Mosaike unterschiedlichster Schalter und Anzeigen, die den Gegenwert der sündhaft teuren und prestigeträchtigen Sonderzubehöre verdeutlichten. Keine Radiosteuerung, kein erkennbares Entertainmentsystem, keine Lüftungssteuerung. Nichts, außer ein in
die Oberfläche des Cockpits integriertes, berührungssensitives Display, welches wie ein übergroßes Smartphone aussah.

Das Naserümpfen über den forschen Neuling in der Automobilindustrie hielt nicht lange. So ziemlich alles, was Rang und Namen in der Automobilindustrie hat, zog nach. Ab sofort war das Entertainmentsystem der Zukunft nichts weiter als eine weitere App, neben Fahrzeug- und Lüftungssteuerung, Navigation und vielem mehr. Alles zusammengeschrumpft auf ein paar Zeilen Softwarecode.

Als Porsche, der wichtigste Kunde, seine neuen Automodelle mit rein elektronischen Multimediasystemen ausstattete und die Fertigungsaufträge 2016 ausliefen, hatte für Schaidt Innovations die letzte Stunde geschlagen. Die Geschäftsführung holte Dr. Wolf-Rüdiger von der Fecht ins Boot, den geschäftsführenden Partner des gleichnamigen, traditionsreichen Sanierungshauses aus Düsseldorf. Eine eigenverwaltete Insolvenz – bei noch bis zum Jahresende vollen Auftragsbüchern – wurde vorbereitet und Mitte Mai 2016 angemeldet. Dr. Biner Bähr, von der international tätigen Kanzlei White & Case, wurde zum Sachwalter bestellt.

Das modernste Werk für die besten Autoradios der Welt war in einer Insolvenz. High Tech – über Nacht umgeben von einer neuen Welt – in der es nie wieder herkömmliche Autoradios geben wird. Es wurde schnell klar, dass der naheliegende Ansatz in Zukunft Smart-Cockpit-Displays zu bauen, nicht einen Deut vielversprechender wäre, als würde man einem Hersteller von spritschluckenden Dieselmotoren vorschlagen, morgen Hochleistungselektromotoren für Tesla zu bauen. „Ein Unternehmen ohne einen einzigen
Kunden und nicht mal einem Hauch einer Idee, was es in Zukunft produzieren sollte, kann man nicht fortführen“, war das erste resignierte Fazit des Sachwalters Bähr.

Unter dem Druck der Situation entstand ein Bündnis aus der Geschäftsführung, dem Betriebsrat, der IG Metall, dem Sachwalter und dem Beraterteam von der Fecht. So wollte man nicht aufgeben. Es waren bereits bei zahlreichen Unternehmenssanierern Beratungsangebote
eingeholt worden. Von hochspezialisierten Experten der Automobilzuliefererbranche, bis hin zu den schillernden Namen der großen Beratungshäuser. Schnell stapelten sich die bunten Präsentationen, die das gesamte Spektrum der Sanierungsmöglichkeiten
abdeckten. Personal einsparen, Prozesse straffen, Einkauf nachjustieren und so weiter auf vielen hunderten von Seiten. Hatte denn keiner der sich anbietenden Berater verstanden, dass durch Kosteneinsparung dieses Unternehmen nicht gerettet werden kann? Kein Schnitt könnte tief genug gehen, wenn die Geschäftsgrundlage wegfällt und es so wie bisher kein Morgen gibt.

Dies war die Gründungsstunde eines scheinbar radikalen – zumindest aber völlig neuartigen – Ansatzes, der so noch nie ausprobiert wurde. Wie wäre es, wenn aus der laufenden Insolvenz des Unternehmens heraus ein völlig neues Geschäftsmodell entwickelt
und das Unternehmen mit dieser neuen Geschäftsgrundlage verkauft werden würde? Die Rettung der Schaidt Innovations bestand also nicht darin, Kosten zu sparen oder etwas zu sanieren. Stattdessen würden die bestehenden Mitarbeiter neue, zukunftsfähige Geschäftsmodelle entwickeln. Um damit das Unternehmen an neue Investoren zu verkaufen, sind nicht einmal neue Kunden nötig, es reicht – wie bei einem Start-Up aus dem Silicon Valley – ein überzeugendes Konzept mit einer attraktiven Geschäftsperspektive.

Zur Umsetzung des gewagten Plans wurde Rasenberger Toschek aus der Schweiz verpflichtet. Die Investmentexperten für Sondersituationen aus Lausanne sollten weltweit die Bereitschaft ausloten, in ein „Start-Up“ mit langer Unternehmensgeschichte
und viel Tradition zu investieren. Die Sanierungsangebote der bekannten Beratungshäuser wurden zur Seite geschoben. Stattdessen wurden Professoren an den Lehrstühlen interviewt, die als die Besten ihrer Zunft galten, Geschäftsmodellinnovationen hervorzubringen. Neben den bekannten amerikanischen Adressen, von Harvard im Osten bis Stanford im Westen, wurde auch gezielt im deutschsprachigen Raum befragt. Nicht wenige der Mitarbeiter von Schaidt Innovations sprachen nicht genug Englisch, um bei einem Geschäftsmodellinnovationsprozess in englischer Sprache mitwirken zu können. Die Wahl fiel schließlich auf die St. Gallener Universität und ihr Innovationsinstitut BMI Lab.

Ein gemischtes Team von internen Mitarbeitenden und externen Ideengebern wurde unter Anleitung der St. Gallener durch den Innovationsprozess geführt. Wichtig bei der Auswahl der internen Mitarbeitenden war die Offenheit für Neues, die Bereitschaft sich
auf unbekanntes Terrain zu begeben und eine breite Abdeckung an unterschiedlichen Funktionen, Erfahrungen und Sichtweisen. In der ersten Phase wurden die Kernkompetenzen erhoben und die vorhandenen Fertigungsanlagen analysiert. Aus dem Abgleich mit relevanten Trends, neuen Kundenbedürfnissen und weiteren Veränderungstreibern wurden ein Dutzend Opportunitätsfelder identifiziert. Für die interessantesten Felder wurden in einem intensiven Workshop eine dreistellige Anzahl von Geschäftsideen generiert. Durch ein Bewertungsverfahren wurden die vier attraktivsten Ideen ausgewählt, die dann durch jeweils eigene Teams weiter detailliert und konkretisiert wurden.

Mit diesen vier attraktivsten Ideen ging das Team von Rasenberger Toschek an den Markt und fand schließlich Investoren, die tatsächlich in einen Bieterwettbewerb für eine Unternehmensidee einstiegen, die nur auf Papier stand. Eine der verfolgten Geschäftsideen, die Fertigung von Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge, passte zur Ausrichtung der Webasto-Gruppe. Das Team, das an dieser Idee gearbeitet hatte, präsentierte diese der Firma Webasto in einem Investorentermin. Nach einer intensiven Due Diligence Phase übernahm Webasto die Schaidt Innovations zum 1. Januar 2017 und führt diese seitdem als Webasto Mechatronics GmbH fort.

Wird dieser Erfolg ein Einzelfall bleiben? „Wohl kaum. Wir sind erst am Anfang einer industriellen Revolution, die von Digitalisierung, künstlicher Intelligenz, Blockchain, Internet of Things, 3D-Druck, verändertem Benutzerverhalten und ökologischen Anforderungen getrieben wird. Der Wegfall von Geschäftsgrundlagen wird in den nächsten Jahren eher die Regel als die Ausnahme werden“, sagt Professor Dr. Christoph Wecht von der New Design University in St. Pölten, westlich von Wien. Er war an der Moderation der Workshops für Schaidt Innovations beteiligt. Heute ist er einer der Gründer der GRANTIRO Initiative. In dieser haben sich führende Köpfe aus den Bereichen Innovation, Sanierung und Investmentbanking zusammengeschlossen, um neue Wege zu erforschen und praktisch umzusetzen, wie Unternehmen transformiert werden können, bei denen eine Sanierung nicht erfolgsversprechend ist. „Jede Woche
werden neue Fälle an uns herangetragen“, sagt Annabell Pehlivan, die das Büro der Initiative in Wien leitet, „bei denen die klassischen Instrumentarien, meistens getrieben durch Kosteneinsparung, versagen. Wirtschaft neu denken ist nicht nur eine spannende Herausforderung, sondern auch schlichtweg eine Notwendigkeit, wenn wir nicht den Wegfall von hunderttausenden Arbeitsplätzen hinnehmen wollen.“ Das klingt nach viel Arbeit, aber auch hoffnungsvoll.

Quelle: P6200086_Restruk_10-2018.indd (handelsblatt.com)