Tetenal Europe stellte 170 Jahre chemische Produkte her, vor allem für die Entwicklung analoger Bilder. Dann ging die Firma pleite – aber die Mitarbeiter wollten nicht aufgeben. Die Geschichte einer Wiederbelebung.
April 2020, brand eins
von Julia Wadhawan
Es ist noch nicht lange her, da war Stefania Grimme Produktionsleiterin bei Tetenal Europe, einem mittelständischen Chemiehersteller in Norderstedt bei Hamburg. Der Name steht für mehr als 170 Jahre Tradition, vor allem in der analogen Film- und Bildentwicklung. Hobbyfotografen verbinden damit ihre ersten Erlebnisse in der Dunkelkammer, Profis und Firmenkunden nutzen die Entwicklungsbäder des Herstellers.
Ihre Stelle trat die Ingenieurin im Juli 2018 an. Im September erfuhren die Mitarbeiter von der Insolvenz. Man könnte das Pech nennen, Schicksal – oder eine Chance. Anderthalb Jahre später sitzt Stefania Grimme, 39 Jahre alt, neben ihrem Kollegen Carsten Gehring im Konferenzraum des Tetenal-Gebäudes. Gemeinsam bilden sie die Geschäftsführung einer neuen Firma, die das Erbe der alten am Leben halten will: die Tetenal 1847.
Der Name nimmt Bezug auf die Anfänge des Unternehmens: 1847 begann Tetenal mit Chemieprodukten für die analoge Fotoentwicklung. Über die Jahre kamen Erzeugnisse für die Wasseraufbereitung, die Agrar- und Kosmetikindustrie dazu. Als Antwort auf den digitalen Wandel vertrieb die Firma später auch Digitaldrucker und Zubehör. Produktion hier, Markendistribution da, zwei Geschäftsmodelle unter einem Dach, zu wenig Masse für große Margen – die Tetenal Europe machte alles ein bisschen, aber nichts richtig, sagen Gehring und Grimme.
Analoge Film- und Fototechnik galt lange als verstaubt, genau wie Schallplatten. Beides ist wieder hip geworden. Hollywood-Regisseure wie Steven Spielberg oder Quentin Tarantino beteuerten ihre Liebe zu Super-8-Kameras, die Kodak 2018 neu auflegte. Sofortbildkameras werden wieder gekauft: Im vergangenen Jahr wuchs der Markt für diese Produkte laut dem Photoindustrie-Verband um neun Prozent. Hersteller wie Fujifilm oder Polaroid bringen neue Modelle auf den Markt.
Heute will Tetenal wieder mitmischen und sich als wichtiger Partner in der analogen Fotoindustrie positionieren. Im digitalen Wandel sei traditionelles Wissen verloren gegangen, sagt Gehring. Wissen, das viele mit dem Firmennamen verbinden. Und das heute wieder etwas wert ist.
Die Idee entstand in einem von mehreren Workshops, die das österreichische Innovationsteam GRANTIRO während der Insolvenz anleitete. Rund 30 Mitarbeiter tüftelten Geschäftsideen aus, fragten sich, wie sie am Leben halten konnten, was lange ihr Leben gewesen war. Viele der 120 Angestellten arbeiteten seit ihrer Ausbildung in der Firma. Carsten Gehring seit 25 Jahren, zuletzt war er Vertriebsleiter. Auch Kunden konnten das Ende nicht fassen. Während eines Workshops, erzählt Gehring, habe er einen Anruf bekommen. Der Präsident von Kodak Motion Picture Film persönlich war dran. Sein gesamtes Hollywood-Geschäft sei von der Insolvenz Tetenals betroffen, habe der gesagt – und gefragt: „How can I help you with my Dollars?“
Investoren, die sich langfristig engagierten, fanden sich trotzdem nicht. Und während der Mitarbeiter-Treffen kam zu dieser Zeit die Frage auf: Warum verwirklichen wir unsere Ideen nicht selbst?
Neustart während der Abwicklung
Die Tetenal 1847 ist im Prinzip ein Start-up, aber das Gebäude, die Maschinen und Produkte, sogar die Mitarbeiter sind die alten. Einige holte die Geschäftsführung zurück, ein Elektromeister kam mit 70 aus der Rente. Während die alte Firma noch abgewickelt wird, versuchen sich die Mitarbeiter an einem Neustart. Möglich gemacht hat das der Gesellschafter Peter Rasenberger vom Innovationsteam GRANTIRO. Unter dem Dach einer Holding stellte er das Eigenkapital für die neue Tetenal und kaufte dem Insolvenzverwalter wichtige Vermögenswerte ab: Markenrechte, Rezepturen, Maschinen und Rohstoffbestände.
Neu sind die Spielregeln. Die Tetenal 1847 finanziert sich sofort zu hundert Prozent über ihren Cashflow. Seit einem Jahr zahlen die Kunden ausschließlich auf Vorkasse. Um sie davon zu überzeugen, flog Gehring Anfang 2019 mit Rasenberger einmal um die Welt, von Hamburg über Großbritannien in die USA, Ost- und Westküste, weiter nach Japan, China und zurück. Innerhalb von zwei Wochen besuchten sie alle wichtigen Kunden, erklärten ihr neu gewachsenes Selbstverständnis und das Anliegen: Ihr bestellt weiter, wir liefern – aber erst, nachdem ihr bezahlt habt.
Am 1. April 2019, ein halbes Jahr nach dem Insolvenzantrag, begann die Tetenal 1847 mit 33 Mitarbeitern und genügend Aufträgen, um die eigenen Ausgaben zu decken.
Der Vertrauensvorschuss lieferte nicht nur das nötige Geld. Es bestärkte die Mitarbeiter auch in ihrem Vorhaben. „Die Kunden mussten unser neues Selbstverständnis annehmen, sonst hätte es nicht funktioniert.“
Die größte Herausforderung für die Gründer war die Bürokratie. Ein Chemieunternehmen braucht besondere Zulassungen, die zum Glück von der alten Tetenal übertragen werden konnten, aber auch banale Dinge wie eine Steuernummer, ein Bankkonto, Versicherungen.
Die Geldfrage stand immer im Mittelpunkt: Was brauchen wir wirklich, was nicht?
Verträge mit Versicherungen und anderen Dienstleistern schlossen sie so ab, dass Rechnungen über den Monat verteilt bezahlt werden können. „Liquidität heißt ja nicht zu sparen, sondern das nötige Geld zur richtigen Zeit zu haben“, sagt Grimme. Das System, das im Falle eines Stromausfalls einsetzt, kontrollieren sie jetzt selbst, statt eine Firma dafür zu bezahlen. Um Putzkosten zu minimieren, ließen sie einige Toiletten sperren. Das Geschirr müssen die Mitarbeiter selbst wegräumen. Die Flexibilität, die in anderen Unternehmen vielleicht selbstverständlich ist, musste sich Tetenal 1847 erst aneignen. Weil ein Erbe auch bedeutet: Das haben wir immer schon so gemacht.
Im Kleinen klingt das trivial, kostete an anderer Stelle aber Kraft – und Geschäftspartner. Weil die neue Firma Rohstoffe nur noch nach Bedarf bestellt, wurden die Mengen kleiner. „Bei dem Lieferanten kann man nur ganze Ladungen bestellen“, sagte die Mitarbeiterin. Grimme antwortete: „Frag ihn doch erst mal.“ Nicht alle ließen sich darauf ein, Großlieferanten mussten durch kleinere ersetzt werden. „Es ist ein Spagat zwischen Machbarkeit und Profitabilität“, sagt Carsten Gehring.
Tradierte Regeln und Rituale standen dem Neuanfang im Weg. Das Abteilungsdenken war über Jahrzehnte gewachsen, jetzt sollten Prozesse im Vordergrund stehen. Das Planungssystem erwies sich als veraltet und unbrauchbar, weil es etwa Vorkasse-Leistungen nicht kannte. Für ein neues System fehlten Zeit und Geld. Stattdessen kleben die Mitarbeiter jetzt im Vorzimmer der alten Geschäftsführung bunte Zettelchen an die Wand. Im ganzen Flur hängen Zettelcollagen mit neuen Abläufen, Projekten, Transparenz- und Kommunikationsstatuten. „Hätten wir ganz neu begonnen, wäre es einfacher gewesen“, sagt Stefania Grimme.
„Die analoge Fotografie ist tot? Von wegen!!!“
Gehaltserhöhungen sind bis auf Weiteres gestrichen, die Arbeitszeit wurde von 37,5 Stunden auf 40 erhöht. Firmenwagen: Gibt’s nicht. Zuschüsse für den öffentlichen Nahverkehr: nicht drin. Die Sparmentalität kennen die Mitarbeiter schon von ihrer alten Firma. Gehaltserhöhungen habe es da auch lange nicht mehr gegeben, sagt die Geschäftsführerin. Dass sich trotzdem knapp drei Dutzend Mitarbeiter wieder darauf einließen, erklärt sie so: „Wir sind eine große Familie.“ Der Elektromeister Harri Neumann sagt: „Man hat sich mit der Firma identifiziert. Außerdem sind wir ganz nett gefragt worden.“
An Gemeinschaftsgefühl will die neue Tetenal jedenfalls nicht sparen. „Die analoge Fotografie ist tot? Von wegen!!!“ steht auf dem Papier, das an einer Glastür im Flur hängt. Zwei Mitarbeiter bieten darauf einen Kurs für die Arbeit in der Dunkelkammer an. Die junge Chefin ist mit allen per Du, um zwölf Uhr trifft sie sich mit einigen aus der Produktion in der Kantine zum Mittagessen. Montags gibt es Selbstgemachtes, ein Kollege hat Kohlrouladen nach serbischem Rezept gekocht. Freitags holen sie Currywurst.
Einmal im Monat kommen alle im alten Büro der Geschäftsführung zum „betrieblichen Austausch“ zusammen. Drei Dutzend Stühle stehen hier, sorgfältig aufgereiht, vorn ein Flipchart. Alle Investitionen werden hier verhandelt, die Entscheidungen treffen dann die Chefs. Ein Ergebnis: Statt einen Winterdienst zu beauftragen, kaufte das Unternehmen ein eigenes Streufahrzeug und sparte so 10 000 Euro. Die Idee kam von den Mitarbeitern. Bei Schnee und Eis sitzen sie selbst am Steuer.
Aktuell sucht das Unternehmen nach einem neuen Gebäude, weil das alte auf Dauer zu groß und zu teuer ist. Mit dem Umzug sollen auch veraltete Maschinen ersetzt werden. Geld dafür plant die Tetenal 1847 bereits ein. Ein paar Rücklagen habe man schon bilden können – und das im ersten Jahr. Das Umsatzvolumen fiel gleich in den ersten zwölf Monaten besser aus als erwartet. Zu den sechs bestehenden Großkunden kamen schon im Sommer rund ein Dutzend weitere hinzu: ehemalige Abnehmer, die erst sehen wollten, ob die neue Firma halten kann, was sie verspricht. Und neue Handelspartner aus dem Konsumentenmarkt. Den will die Firma langfristig ausbauen und Produkte für die Dunkelkammer zu Hause vertreiben.
Gerade arbeiten die Kollegen an ihrer ersten Jahresbilanz, mit der sie Banken und Investoren überzeugen wollen, weil das aktuelle System zwar funktioniert, aber nicht so bleiben soll. Auf Dauer will Tetenal 1847 den Kunden wieder normale Verhältnisse anbieten.
Quelle: brand eins 04/2020